Der Weg, um unabhängig zu bleiben

„Martin, das kannst du nicht machen! Du gehörst doch zur Familie …“
Die Stimme meiner Mutter überschlug sich. Alle redeten durcheinander. Dabei fielen Worte wie „Tradition“, „Verrat“ oder „Das ist nicht dein Ernst!“

Doch! Es war mir ernst. Sehr ernst sogar. Damit, dass ich nie wieder zum Familientreffen fahren würde. Was war passiert? In der Familie nichts, aber in mir sehr viel.

Stellen Sie sich mal eine richtige Grossfamilie vor: Drei Brüder und drei Schwestern, Onkel, Tanten, und natürlich unzählige Nichten und Neffen. Das ist die Runde beim jährlichen Treffen. Mit einigen Geschwistern verstehe ich mich sehr gut, mit anderen wiederum habe ich, ausser dem gemeinsamen Stammbaum, nicht die geringste Verbindung. Zwei von ihnen, Anhänger der Freikirche, wollen mich auch noch jedes Mal missionieren.

Einmal im Jahr bin ich also aus Pflichtgefühl zum Treffen gefahren. Zwei Stunden hin, zwei Stunden zurück – dazwischen drei Stunden wie auf der Folterbank. Ich hörte mir Krankheitsgeschichten an, die mich nicht interessierten, ich hörte mir Nachbarschaftsstreitigkeiten an, die mich nicht interessierten – und ich kämpfte verbissen gegen die Missionierungsversuche der beiden Fundamentalisten. Und warum das alles? Weil Blut dicker ist als Wasser? Nein! Weil ich tief innen in einer unbewussten Abhängigkeit steckte. Warum sonst hätte ich das getan, was von mir erwartet wurde, und nicht das, was ich wollte?

Dann wurde mir klar: Echte Bindung ist immer freiwillig! Und nicht an den Zufallsfaktor Verwandtschaft gebunden. Wer hat gesagt, Sie müssen Zeit mit Menschen verbringen, nur, weil sie mit Ihnen verwandt sind? Die Tatsache, dass Sie zufällig in eine Gruppe hinein geboren wurden, verpflichtet Sie absolut gar nicht dazu, für die Gruppe da zu sein.
Ich habe mich vor mehreren Jahren entschieden, nicht mehr zum Familientreffen zu fahren. Manche Geschwister habe ich seitdem nicht mehr gesehen. Mit jenen, denen ich mich verbunden fühle, treffe ich mich weiterhin regelmässig. Und für sie werde ich immer da sein. Voll und ganz. Verwandtschaft hin oder her.

Wie sieht es bei Ihnen aus? Wer entscheidet über Ihre Zeit? Sie selbst? Oder Ihre unbewussten Abhängigkeiten?