Manche machen ihre Berufung zum Beruf, ich habe meinen Alptraum zum Beruf gemacht. Doch wirklich! – Wie es dazu kam?

Als Jugendlicher war es für mich der blanke Horror, vor mehr als einer Handvoll Menschen frei zu sprechen. Zwar hatte ich kein Problem damit, meine Gedanken in Sätze zu fassen, aber allein die Vorstellung, vorzutragen, ließ mich innerlich erstarren. In der Schulzeit hatte ich oft schlaflose Nächte, wenn ich am nächsten Tag ein Referat halten musste. Die freie Rede war für mich der reinste Alptraum!

Das kann so nicht weitergehen!, dachte ich irgendwann. Ich glaube, ich war gerade 20 Jahre alt. Ich merkte nämlich, wie mich diese Angst einfach zu sehr einschränkte, und wollte deshalb etwas unternehmen. Die naheliegende Lösung: ein Rhetoriktraining!

Ich fand schnell eine entsprechende Annonce in der Zeitung, meldete mich für das Seminar an und stellte mich innerlich schon mal auf drei entspannte Theorietage ein. Was ist die richtige Haltung bei einem Vortrag? Wie lange sollte man reden, wo Pausen machen? Wann ist die richtige Zeit für einen Witz? So in etwa stellte ich mir die Inhalte des Seminars vor.

Als ich dann in den Seminarraum kam, waren bereits 11 von 12 Stühlen besetzt. Wie sich später herausstellte, allesamt von Managern, Führungskräften und Coaches. Der Seminarleiter kam gleich auf mich zu,begrüsste mich – und als ich mich gerade auf den Platz setzen wollte, sagteer: „Nein, nein, bleiben Sie ruhig gleich hier vorne stehen! Sie sind der Jüngste, deshalb dürfen Sie anfangen. Das ist bei uns so Tradition!“ Er stellte sich vor die Tür und lächelte mich an. Damit war der Fluchtweg versperrt.

„Sie haben jetzt fünf Minuten Zeit!“, sagte der Seminarleiter. „Das Thema, zu dem Sie nun vor uns referieren dürfen, heißt: ‚Warum sind die Tomaten rot?‘ Und los!“

Ich weiß noch, wie er die Stoppuhr drückte und wie ich die längsten fünf Minuten meines Lebens erlebte. Was ich vor diesen Herren erzählt habe, daran kann ich mich heute nicht mehr erinnern. Ich erinnere mich nur, wie der Seminarleiter nach einer gefühlten Ewigkeit sagte: „Vielen Dank, das haben Sie gut gemacht!“

Ich glaubte ihm natürlich kein Wort, war nur froh, überlebt zu haben, und wollte mich schnell verdrücken und auf den freien Stuhl setzen.

Aber nein, der Seminarleiter war mit mir noch nicht fertig! „Ihr Thema für die nächsten fünf Minuten lautet: ‚Das Liebesleben der Pflastersteine bei Regen.‘ Die Bühne gehört Ihnen!“

Die Bühne war natürlich das Letzte, was ich diesem Moment begehrte, aber ich brachte auch diese Nummer qualvoll hinter mich. Doch nicht nur das: Ich lernte in diesem Seminar, nachdem ich ins kalte Wasser geworfen worden war, tatsächlich vor anderen Menschen frei zu reden!

Und dies war gleichzeitig eine der wichtigsten Lektionen für mein eigenes Leben: Es kommt nicht darauf an, etwas zu wissen! Alles Wissen über Rhetorik hätte mir praktisch nichts genützt. Wer schwimmen lernen will, muss ins Wasser, wer Radfahren lernen will, muss rauf aufs Velo. Und wer reden lernen will, muss vor anderen den Mund aufmachen. Wissen ist das Eine, Tun das Andere! Doch auf Letzteres kommt es an! Heute kenne ich natürlich sanftere Methoden, um meinen Teilnehmern diese Erkenntnis zu ermöglichen.

So ist heute das, was für mich früher ein Alptraum gewesen wäre, heute mein Traumberuf: Redner! – Was ist Ihr Traum? Und wann fangen Sie an?

http://www.betschart.tv/94/referate-seminare/rhetorik-training